Sprachvarietäten

"Deutsch ist nicht gleich Deutsch!" Die Behauptung kennen sicher die meisten von euch. Sie stimmt natürlich auch, denn Deutsch spricht man nicht nur in Deutschland sondern auch in Österreich und in der Schweiz. Darüber hinaus gibt es auch Unterschiede in Deutschland selbst. Genau diese Differenzierungen versucht die Sprachwissenschaft mit sogenannten Varietäten bzw. Sprachvarietäten abzubilden.

1. Definition: Was ist eine Sprachvarietät?

Die Untersuchung von Sprachvarietäten liefert interessante sprachwissenschaftliche Erkenntnisse, die in Zusammenhang mit der in der jeweiligen Region stattgefundenen Geschichte der dort lebenden Bevölkerungsgruppen und -schichten gesehen werden können. Aus dem Grund gibt es mehrere Teilgebiete der Sprachwissenschaft, die sich mit dem Phänomen der Sprachvarietäten auseinandersetzen: die Varietätenlinguistik (die die Beziehungen von Phonetik, Grammatik und Lexik näher untersucht), die Soziolinguistik (die den Fokus stärker auf die (historischen) Sprecher und ihren Status in der Gesellschaft setzt) und die Dialektologie (die das Verhältnis des jeweiligen Dialekts in Abgrenzung zur Hochsprache untersucht, wobei sich die Ausprägung der Dialekte im lokalen Raum schon unterscheidet. Zudem sind viele Dialekte und ihre Varietäten vom Aussterben betroffen). Darüber hinaus werden Sprachwandelprozesse in der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft näher beleuchtet.

2. Welche Dimensionen gibt es und was bedeuten sie?

Der Sprachwissenschaftler Eugenio Coseriu (1921-2002) hat ein Modell des Varietätenraumes entworfen, in dem er die Sprachvarietäten nach ihrer Funktion einteilt. Er unterscheidet dabei folgende Dimensionen:

2.1. Diatopisch

Diese Dimension betrachtet die geografischen Bezüge des Dialekts oder Regiolekts, der übergeordneten Form.

2.2. Diastratisch

Diese Dimension rückt den Aspekt der Gesellschaftsschicht, in der diese Varietät gesprochen wird, in den Fokus. Die Ausprägung der Varietät ist der Soziolekt. Auch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe (Jugendsprache, Frauensprache, Männersprache, Fachsprache) gehört in diese Betrachtung mit hinein.

2.3. Diaphasisch

Die diaphasische Dimension betrachtet die Verwendung der Varietät in einem kommunikativen Kontext, die Intention und den verwendeten Sprachstil eines Sprechers. Ein Sprecher kann in einer vertrauten, ganz persönlichen Kommunikationssituation, wenn er sich besonders wohl oder unwohl fühlt, in diese Varietät übergehen und sie verwenden. Die Verwendung der Sprachvarietät hängt damit von der jeweiligen Sprachsituation oder ihrer Funktion ab. Hierzu zählt man bspw. Fachsprachen und Umgangssprachen.

Eugenio Coseriu stellt fest, dass jede Sprache eine ihr eigene Varietätenstruktur aufweist, die historisch, räumlich und soziologisch in ihrem Verbreitungsraum entstanden ist. Diese Vielfalt in der Ausprägung bezeichnet er mit der Architektur der Sprache.

3. Was steht im Mittelpunkt der Varietätenforschung?

Die Varietätenforschung beleuchtet Ausmaß und Ausprägung einer sprachlichen Varietät in Bezug auf die Standardsprache. In Deutschland bestehen drei Hauptvarietäten. Dazu zählen die Standardsprache, die Umgangssprache und der Dialekt. Welche Varietäten darüber hinaus noch eine Rolle spielen, erfahrt ihr im Folgenden:

3.1. Standardsprache

Die Standardsprache als Referenzsprache zur Sprachvarietät zeichnet sich durch eine übergeordnete Sprachnorm aus, die in einem großen Raum von den Sprechern in Grammatik und Phonetik verwendet wird. Daneben ist sie verschriftlicht. Die Standardsprache als standardisierte Varietät hat sich im Laufe der Geschichte aus den vorhandenen Varietäten abgehoben und den Prozess einer Vereinheitlichung durchlaufen. Sie wurde gelehrt und in Wort und Schrift verbreitet. Von den Sprechern wurde sie als Standardsprache akzeptiert und verwendet.

3.2. Umgangssprache

Die Umgangssprache ist eine Sprachvarietät. Sie ist direkt unterhalb der Standardsprache einzuordnen, da sie darauf aufbaut. Sie kann aber - je nach Region - erheblich davon abweichen, was sie auch darf, da sie keiner Normung unterliegt. In Deutschland ist sie die am häufigsten gesprochene Varietät. Sie wird in alltäglichen Situationen von jedem gesprochen, der keinen Dialekt spricht

3.3. Dialekt

Dialekte sind historisch gewachsene Varietäten der Standardsprache. In Bezug auf die Standardsprache zeichnen sie sich durch eine Vielfalt in Phonologie (Lautsystem), Phonetik (Aussprache), Lexik und Grammatik (Formenlehre) und Syntax aus. Ein Beispiel: Im NDR gibt es Beiträge auf Plattdeutsch im Radio und Fernsehen. Die dort gesprochene Varietät des Plattdeutsch, selbst wenn sie als Hamburger Platt dargestellt wird, unterscheidet sich in der Intonation bei der Dehnung der Vokale und der Satzmelodie bereits vom Vierländer Platt aus den Hamburger Vier- und Marschlanden.

3.4. Soziolekt

Ein Soziolekt ist ein Begriff aus der Soziolinguistik. Der Soziolekt wird von sozial definierten Gruppen verwendet, die sich von der Standardsprache abheben. Der Soziolekt wird nur innerhalb der spezifischen Gruppe verwendet und ist auch nur dort ohne Missverständnis verständlich. Wie ein Dialekt auch, kann sich ein Soziolekt auf allen sprachlichen Ebenen (Lautsystem, Formenlehre, Satzbau, Bedeutungsinhalt der Begriffe, Wortschatz) von der Standardsprache unterscheiden.
Zum Soziolekt zählen die berufsbedingten Gruppensprachen wie die Berufs- und Fachsprachen, die schichtspezifischen Gruppensprachen wie das Ruhrdeutsch sowie die Sondersprachen.

3.4.1 Sondersprachen wie die Jugendsprache

Die Jugendsprache ist eine Sondersprache, die sich dadurch auszeichnet, dass sie extrem kreativ ist. In Bezug auf die Standardsprache hebt sie sich in den Bereichen der Phonetik, Verschriftlichung (Beispiel: Kanak Sprak), Wortschatz und Satzbau ab. Im städtischen Bereich sind ethnolektale Elemente von Jugendlichen mit Migrationshintergrund in die Jugendsprache eingeflossen, was sich in der Aussprache, grammatikalisch in einzelnen Ausdrücken und Wendungen und in der Gestik, die die Kommunikation begleitet, bemerkbar macht. Die Jugendlichen haben sich zu allen Zeiten in ihrer Sprache entwicklungspsychologisch von den Erwachsenen abgegrenzt. Ihre Sondersprache gilt der gruppeninternen Kommunikation und der eigenen Festigung als Peergroup gegenüber der Außenwelt. In den kreativen Sprachgebrauch fließen die Auseinandersetzung mit Rollen- und Statuszuschreibungen und eine starke emotional-expressive Funktion mit ein. Der Wortschatz wird um die Begriffe und Elemente erweitert, die für die jugendliche Lebenswelt eine Bedeutung haben. Neben dem kreativen Wortschatz sind die Stilmittel der Übertreibung, der Intensivierung, der Ironie, der Provokation und des Spiels beliebt. Um die Bedeutung zu unterstreichen, werden Interjektionen wie "ey", "Alter", "boah" verwendet. Begriffe werden mit Metaphern umschrieben. Jugendsprache kann provokant, beleidigend und verletzend sein. Die Begriffe sind kurzlebig und die Jugendsprache ist einem relativ schnellen zeitlichen Wandel unterworfen.
Darüber hinaus zählen auch alle weiteren nicht berufs- oder schichtbedingten Gruppensprachen wie die Studentensprache, die Schülersprache und die Kindersprache, konstruierte Sprachen wie die Geheimsprache sowie die Jargons zu den Sondersprachen.

3.5. Ethnolekt

Ethnolekte entstehen überall da, wo Migranten in eine Sprachregion einwandern und die Zielsprache noch nicht komplett beherrschen. Auf dem Pidgin-Niveau (als Behelfssprache) haben sie eine eigene Aussprache mit einem mehr oder weniger starken Akzent oder phonetischen Besonderheiten, einen kleinen Wortschatz und gebrauchen die Grammatik der Zielsprache nur in Ansätzen (Beispiel: "Kollege Pause - ich Maschine"). Im Akzent zeichnet sich der Ethnolekt dadurch aus, dass ein Sprecher, selbst wenn er einen Laut isoliert korrekt produzieren kann, diesen im Kontext der Zielsprache nicht anwendet: Die Laute der Zielsprache und die Satzmelodie werden der einheimischen Muttersprache angepasst. Grammatische Strukturen werden vereinfacht und beispielsweise eine Konjugation oder Deklination vernachlässigt, da die Energie des Sprechers darauf verwendet wird, den passenden Wortschatz zu finden.
Ethnolekte können in die nächste Generation tradiert (überliefert) werden, oder selbst dann beibehalten werden, wenn die Normen der Standardsprache beherrscht werden. Vergleichbar zu einem dialektalen Sprecher ist der ethnolektale Sprecher in der Lage, zu selektieren und in der geforderten Situation und im Kontext die Standardsprache korrekt einzusetzen. Das Beibehalten der Standardsprache gelingt aber nicht allen Sprechern in allen Situationen. Als "Ghettoslang" oder "lingua franca" wird Ethnolekt in vielsprachigen Umgebungen verwendet, wobei sich die Pidgin-Merkmale herausgebildet haben: Präpositionen und Artikel werden bei Lokalangaben und Richtungsangaben weggelassen ("Ich geh Toilette"). Deklinationen und Konjugationen werden vereinfacht und Endungen weggelassen ("von meinen Nachbar", "sie empfehlt"). Das Verb "machen" wird generalisiert verwendet. Formeln wie "ich schwör" verleihen dem Gesagten mehr Bedeutung und bekräftigen die Aussage. Bei Anreden, Beschimpfungen oder Ausrufen werden häufig Elemente aus einer anderen Sprache verwendet.

3.6. Genderlekt

Beim Genderlekt geht man davon aus, dass das Geschlecht des Sprechers Einfluss auf sein Sprachverhalten und sein Sprachgebrauch hat. Man spricht daher auch von einer geschlechterspezifischen Sprache (Männersprache / Frauensprache), die einen typischen "Männerstil" und einen "Frauenstil" aufweist. Männer und Frauen kommunizieren also mit unterschiedlichen Varietäten. Typisch für Männer ist bspw. ihr eher dominierender Part in einem Gespräch, ihr vermehrtes Fluchen und das Nutzen von Tabuwörtern. Frauen zeichnen sich häufiger durch eine empathische und von Unsicherheit und übermäßiger Höflichkeit geprägten Kommunikation aus.

3.7. Idiolekt

Der Idiolekt ist die Bezeichnung für die individuelle Sprache eines einzelnen Menschen. Er kann in Teilbereichen einen eigenen Wortschatz haben. Zudem hat er sein individuelles Sprachverhalten, seine eigene Ausdrucksweise und Aussprache. Der Idiolekt ist die kleinste Untersuchungseinheit, nachdem jeder Sprecher einer Gruppe angehört. Verschiedene Idiolekte von einzelnen Personen können verglichen werden. Daraus könnte der gemeinsame Soziolekt abgeleitet werden. In der Forensik wird die Untersuchung des Idiolekts als Indiz zusammen mit anderen Merkmalen angewendet, um eine Täterschaft einzugrenzen oder nachzuweisen.

4. Welche gesellschaftlichen Bedeutungen haben Sprachvarietäten?

Sprachvarietäten haben schon immer in allen Kulturen und Gesellschaften existiert. Ihre Untersuchung zeigt das Wirken des sprachlichen Wandels an sich in der Zeit und zum jetzigen Zeitpunkt.

4.1. Sprachlicher Wandel - gut oder schlecht?

Sprachlicher Wandel hat zu allen Zeiten stattgefunden. Abhängig von den Bedingungen, unter denen ein Sprachwandel stattfindet, können die Entwicklungen von Vorteil oder von Nachteil sein.

4.1.1. Pro

4.1.1.1. Kreative Entwicklung

Kreative Entwicklungen wie Neologismen zeugen von der großen Flexibilität, die einer Sprache innewohnt. Sie passt sich damit den Veränderungen an, die in einem bislang nicht gekannten Ausmaß und Tempo die Welt verändern. Die Anpassung an das System, so, wie es funktioniert, wird nicht nur von der Sprache gefordert.

4.1.1.2. Code-Switching

Code-Switching ist die Fähigkeit, zwischen verschiedenen Varietäten einer Sprache oder zwischen Sprachen in einem Dialog oder Text hin und her zu wechseln. Dabei können Begriffe als Marker dienen, die den Wechsel in die andere Varietät einleiten. Der Wechsel kann innerhalb eines Gespräches, eines Satzes oder eines Satzteils auftreten. Der Kontext ist ein Raum, innerhalb dessen dieser Wechsel stattfindet. Mehrsprachige Gesellschaften oder Gruppen nutzen häufig das Code-Switching. Während dieses Sprachmuster in vergangenen Jahrzehnten als Defizit angesehen wurde, wird heute eher die Fähigkeit in den Vordergrund gestellt, sich auf unterschiedliche Gesprächsmodi einzustellen: Jede Sprache fühlt anders und teilt Inhalte anders mit. Das Code-Switching kann damit die Fähigkeit des Sprechers beinhalten, besonders angemessen mit einer Kommunikationssituation umgehen zu können. Der Empfänger muss natürlich den anderen Code entschlüsseln können.

4.1.2. Contra

4.1.2.1. Aussterben des Standarddeutschen

In der Gegenposition kann argumentiert werden, dass sich die Sprecher immer weiter von einer Norm des Standards entfernen (Beispiel: Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod), bis der Abstand so groß ist, dass die Norm obsolet wurde. Deshalb kann es durchaus sein, dass alle paar Jahrzehnte Reformen stattfinden. Die Duden-Gesellschaft ist aus diesem Grunde bemüht, die Normen in einem Standardwerk festzuhalten und jährlich akkreditierte Neuerungen hinzu zu fügen.

4.1.2.2. Missverständnisse

Varietäten als Abweichungen von der Standardsprache können dann zwischen Sender und Empfänger zu Missverständnissen führen, wenn der Empfänger den Code nicht mehr entschlüsseln kann, weil er über die "Mehrsprachigkeit" nicht verfügt. Beispiele hierfür sind Abkürzungen, grammatikalisch falsch verkürzte Sätze, falsche Wortstellungen, andere Regelbrüche wie falsche Deklination, Konjugation oder der Gebrauch des Plurals. Auch Dialekte, ursprünglich dialektal gesprochen, können zu Missverständnissen führen, wenn sie zu weit von der Standardsprache entfernt sind und beide Sprecher nicht darüber verfügen (theoretisches Beispiel: Ein Norddeutscher trifft einen Bayer).

4.1.2.3. Auswirkungen auf den Umfang des Wortschatzes

Es besteht die Möglichkeit, dass der Gebrauchswortschatz schrumpft, wodurch jahrhundertelang tradierte (überlieferte) kulturelle Inhalte und Bedeutungen verloren gehen. Aber auch hier bewahrt die Duden-Gesellschaft das Gedächtnis einer Sprache.

Über den Autor
Silvan Maaß ist Diplom-Kommunikationswirt (dab) sowie Mitbegründer der Sprachnudel, wodurch er sich seit über 17 Jahren beinahe täglich mit angewandter Linguistik und Wortschatzentwicklung beschäftigt. Die Lebendigkeit der Sprache hat es ihm besonders angetan. Daher interessiert er sich insbesondere für Themenfelder der Linguistikforschung wie bspw. Okkasionalismen und Neologismen.