Eine Ritualmordlegende (auch: Ritualmordfabel, Ritualmordvorwurf, Blutbeschuldigung, Blutanklage, Blutlüge; englisch blood libel) sagt gesellschaftlich diskriminierten Minderheiten Ritualmorde an Angehörigen einer Mehrheitsgruppe nach. Die Kolporteure greifen oft unaufgeklärte Entführungs-, Unglücks- oder Tötungsfälle auf, besonders von Kindern, und bieten dafür „Sündenböcke“ an. Die Legenden dienen zur Verleumdung der behaupteten Täter, verstärken und rechtfertigen ihre Unterdrückung, Verfolgung und Ermordung.
Historisch besonders wirksam waren Ritualmordanklagen im europäischen Christentum, die behaupteten: Die Juden bedürften des Blutes von Christenkindern für ihre Pessachfeier und zu verschiedenen magischen oder medizinischen Zwecken. Dieser Vorwurf tauchte erstmals 1144 in England auf und wurde zu einem dauerhaften Stereotyp des christlichen Antijudaismus. Die Legende bewirkte oft Judenpogrome, Lynch- und Justizmorde an den Beschuldigten, ihren Angehörigen und Gemeinden. Sie wurde von lokalen, regionalen oder staatlichen Interessengruppen gezielt konstruiert und wanderte später in Volkssagen und religiöse Folklore ein. Sie verknüpfte kirchliche Beeinflussung mit Aberglauben und wirkte aufgrund kombinierter Faktoren von wirtschaftlicher Not, sozialer Unzufriedenheit und apokalyptischen Ängsten. Sie begründete die antisemitische Verschwörungstheorie eines angeblichen Weltjudentums, das sich heimlich für schwerste Verbrechen an Nichtjuden verabrede.Von England gelangte die Legende über Spanien und Frankreich in den deutschsprachigen Raum (13. Jahrhundert), dann nach Italien, Polen und Litauen (15. Jahrhundert), schließlich nach Russland (18. Jahrhundert) und in das Osmanische Reich (19. Jahrhundert). Sie überdauerte das Zeitalter der Aufklärung und erlebte parallel zum Antisemitismus seit 1800 einen neuen Aufschwung in Mittel- und Osteuropa. Die Nationalsozialisten benutzten sie zur systematischen Volksverhetzung vor und während des Holocaust. Gegenwärtig lebt sie unverändert und in neuen Varianten vor allem im Rechtsextremismus und Islamismus fort.